„wenn wir die Augen aufmachen“

„wenn wir die Augen aufmachen“

… Bei Karsta Lipp ist die Autorenschaft ‚ihrer‘ Fotografien eine Leerstelle. Unzählige Fotografien aus Griechenland und Marokko von Menschen. Was Karsta Lipp allerdings von diesen Menschen abbildet, sind nicht sie selbst – wie man ja gemeinhin annimmt, wenn man das Porträt meint. Sie macht Porträts der Porträts. …. ihre bewusste Autorenschaft ist evident. Jedoch spielt sie. Die Frage – und nicht etwa die Antwort – wird zur Kippfigur. Und die löst sich nicht auf, egal wie man es dreht: Wer erzählt denn eigentlich? Oder: Wer erzählt hier eigentlich wem was? Und vor allem: Warum sollte man das tun, was ist der Gewinn?
… Wer schaut also wen an? Gilt der Blick mir – dem Betrachter dritter Ordnung? Gilt der Blick nur dem Fotografen, also dem ersten, der uns unbekannt bleiben wird? Oder gilt der Blick auch all jenen, die dann folgen? Schließt man nur jene ein, die vom Modell als Publikum bestimmt waren? Waren es Verwandte, Freunde, Nachbarn, Geliebte? Oder war das Bild für andere gar nie gedacht, sondern galt dem Modell ganz allein?
… Dann kommt Jahre später Karsta Lipp und schaut auch noch einmal. Schon wird sie sich in jenem sinistren Gefühl gefunden haben, das jeden befällt bzw. jeder sucht, blättert er/sie beim Trödler im Kasten von einst privaten, gar intimen Fotos aus dem Nachlass Fremder. Da dring ich in die Sphäre, die nicht mir galt und noch immer nicht gilt und nie gelten wird.
… So kommt dann Karsta Lipp und schaut auch, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihren Augen gewidmet war. Und was macht sie? Unverfroren setzt sie eines drauf, indem sie noch ein Foto davon nimmt … ganz vorsätzlich. Nicht für sich, sondern wieder für andere Augen. Und das Spiel wird um eine weitere Potenz erhöht: Wir, die nun als nächstes auf die Aufnahme der Aufnahme schauen.
… Die vielleicht schönste Frage der vielen Fragen: Welche Richtung nimmt der Blick? War es das des Ur-Fotografen, ist es Karsta Lipp oder bin ich es, der letzte, der dieses Bild vollendet, indem ich es anschaue? Oder sind wir es alle drei?

Das Bild im Bild, das Auge im Auge im Auge. …

Auszug aus dem Text von Steffen Hendel, Berlin 2006

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